Liebe Dacoma,
Ich habe mir lange überlegt, ob ich was dazu schreiben soll. Ich erkenne mich gut in vielem, was du schreibst.
Ich bin mein ganzes Leben ein Moppelchen gewesen. Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, irgendwie nicht richtig zu sein, zu früh geboren, zu oft krank, zu schwer krank, zu unsportlich, zu schüchtern, zu dick, zu hässlich, zu wertlos, zu fett, ein Sorgenkind, eine Enttäuschung. Seit ich denken kann, kämpfe ich mit meinem Gewicht, habe diätet, mir Tips von weiss ich wem geholt. Als ich 19 war, sollte sich mein Leben ändern. Ich zog aus meinem Elternhaus aus und begann in einer anderen Stadt zu studieren, und 3 Wochen lang ging es mir richtig gut. Ich hatte einen Freund (zum ersten Mal in meinem Leben interessierte sich jemand für mich - dachte ich). Mein Essverhalten war super, auch ohne Diät nahm ich etwas ab, knapp 80 kg hab ich damals gewogen. Dann wurde ich Opfer eines Verbrechens. Mein "Freund" misbrauchte mich in Anwesenheit seiner Freunde und verkaufte mich für ein bißchen Alkohol an den Rest der Gruppe. Dass ich das überlebt habe, verdanke ich dem simplen Zufall, dass mich ein Rettungsassistent gefunden und wiederbelebt hat, bevor mein Gehirn großen Schaden genommen hat. Zwei Tage später - zu diesem Zeitpunkt war ich noch im Koma - wurde er wegen zweifachen gemeinschaftlichen Sexualmordes verhaftet, neun Monate später wurde er dann wegen dieser 3 Verbrechen gemeinsam mit seinen Kumpels zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Körperlich habe ich mich schnell und gut erholt. Psychisch habe ich mich schwer getan. Ich habe mehrfach versucht, mir das Leben zu nehmen, weil ich mit den Erinnerungen nicht leben wollte. In die Psychiatrie hat mich trotzdem keiner eingewiesen. Dann habe ich angefangen zu fressen, regelrechte Fressattacken, meist kombiniert mit Attacken, in denen ich mir selbst die Arme aufgeschnitten oder aufgestochen habe. Teilweise hab ich auch bewußt zugenommen. Ich wollte nicht mehr so aussehen, dass irgend ein Mann mich freiwillig angefasst hätte - hat aber nicht funktioniert, dafür zieht man irgendwann nur noch die Fetischisten an. Ein Jahr nach der Vergewaltigung wog ich fast 70 kg mehr. Ich wagte auch nicht, nein zu sagen, wenn jemand Interesse heuchelte - ich hatte viel zu viel Angst, dass sich jemand das mit Gewalt holt, das ich nicht freiwillig geben wollte. Zu diesem Zeitpunkt wurde ich auch schwanger, eine wirkliche Beziehung hatten wir nicht. Hätte ich mein Kind nicht bekommen, würde ich wahrscheinlich nicht mehr leben. Mein Kind war der Anker zum am leben bleiben, das konnte ich nicht alleine lassen. Etwa ein halbes Jahr nach der Geburt habe ich eine Traumatherapie angefangen - immerhin über 2 Jahre nach dem Ereignis. Etwa ein Jahr später lernte ich meinen Mann kennen, 2 Jahre nach unserem Kennenlernen haben wir geheiratet. Mein Gewicht war immer Spiegel meiner psychischen Verfassung - ging es mir gut, ging das Gewicht runter, ging es mir schlecht, ging es wieder rauf. Damals habe ich erstmals an OP gedacht, war aber der Überzeugung, dass ich erst mal meine Psyche reparieren musste, damit das ganze irgend einen Sinn hat.
Die Psychotherapie dauert mit mehrfacher kurzer Unterbrechung immer noch an. Ich habe gelernt, mich selbst zu mögen, was nicht sehr leicht ist. Ich habe gelernt, dass meine Erinnerungen zu mir gehören, und dass ich nicht durch eine Therapie gehen kann und dann ist alles wieder gut, sondern dass ich mich täglich und lebenslang mit ihnen auseinandersetzen muss und mit meiner Depression, meiner Sucht nach Essen. Ich musste lernen, Probleme nicht herunter zu schlucken, sondern anzunehmen. Ich musste auch lernen, mir etwas Gutes zu tun, das nicht mit Nahrungsaufnahme zu tun hat. Seit 1,5 Jahren lebe ich ohne Psychopharmaka und habe seitdem auch keine Essattacken mehr gehabt. Was mir noch oft bleibt, ist das Gefühl, nicht gut genug oder nicht richtig zu sein.
Sonst geht es mir inzwischen gut. Ich habe einen tollen Mann und 2 super Kinder. Ich habe mein Studium beendet und eine abgeschlossene Facharztausbildung. Beruflich würde ich gerne noch weiter kommen.
Mein Gewicht hat sich seit Jahren bei 122 kg eingependelt. Mit diesem Gewicht bin ich in Absprache mit meiner Psychologin ins Adipositaszentrum gegangen. Während des MMK habe ich 12 kg abgenommen, und ich habe gemerkt, wie viel sich im Kopf getan hat. Ich kann inzwischen andere essen sehen ohne mitzufressen, auch Chips und Schokolade (und das konnte ich vorher tütenweise runterschlucken). Vor 11 Tagen habe ich einen Schlauchmagen bekommen.
Gescheitert... Bis jetzt bin ich immer gescheitert. Aber wenn ich nicht weiter mache, bin ich schon gescheitert.
Die Gründe, warum Menschen übergewichtig oder esssüchtig werden, sind vielfältig. Aber weder mein Gewicht noch all die Dinge, die ich in meinem Leben getan habe (freiwillig, aber ohne meinen "Freund" wäre es wohl nicht so weit gekommen), machen mich zu einem schlechteren Menschen. Vielleicht musst du auch ein bißchen an der Ursache kratzen und nicht so sehr an den Folgen.
LG,
Andrea
Ich habe mir lange überlegt, ob ich was dazu schreiben soll. Ich erkenne mich gut in vielem, was du schreibst.
Ich bin mein ganzes Leben ein Moppelchen gewesen. Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, irgendwie nicht richtig zu sein, zu früh geboren, zu oft krank, zu schwer krank, zu unsportlich, zu schüchtern, zu dick, zu hässlich, zu wertlos, zu fett, ein Sorgenkind, eine Enttäuschung. Seit ich denken kann, kämpfe ich mit meinem Gewicht, habe diätet, mir Tips von weiss ich wem geholt. Als ich 19 war, sollte sich mein Leben ändern. Ich zog aus meinem Elternhaus aus und begann in einer anderen Stadt zu studieren, und 3 Wochen lang ging es mir richtig gut. Ich hatte einen Freund (zum ersten Mal in meinem Leben interessierte sich jemand für mich - dachte ich). Mein Essverhalten war super, auch ohne Diät nahm ich etwas ab, knapp 80 kg hab ich damals gewogen. Dann wurde ich Opfer eines Verbrechens. Mein "Freund" misbrauchte mich in Anwesenheit seiner Freunde und verkaufte mich für ein bißchen Alkohol an den Rest der Gruppe. Dass ich das überlebt habe, verdanke ich dem simplen Zufall, dass mich ein Rettungsassistent gefunden und wiederbelebt hat, bevor mein Gehirn großen Schaden genommen hat. Zwei Tage später - zu diesem Zeitpunkt war ich noch im Koma - wurde er wegen zweifachen gemeinschaftlichen Sexualmordes verhaftet, neun Monate später wurde er dann wegen dieser 3 Verbrechen gemeinsam mit seinen Kumpels zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Körperlich habe ich mich schnell und gut erholt. Psychisch habe ich mich schwer getan. Ich habe mehrfach versucht, mir das Leben zu nehmen, weil ich mit den Erinnerungen nicht leben wollte. In die Psychiatrie hat mich trotzdem keiner eingewiesen. Dann habe ich angefangen zu fressen, regelrechte Fressattacken, meist kombiniert mit Attacken, in denen ich mir selbst die Arme aufgeschnitten oder aufgestochen habe. Teilweise hab ich auch bewußt zugenommen. Ich wollte nicht mehr so aussehen, dass irgend ein Mann mich freiwillig angefasst hätte - hat aber nicht funktioniert, dafür zieht man irgendwann nur noch die Fetischisten an. Ein Jahr nach der Vergewaltigung wog ich fast 70 kg mehr. Ich wagte auch nicht, nein zu sagen, wenn jemand Interesse heuchelte - ich hatte viel zu viel Angst, dass sich jemand das mit Gewalt holt, das ich nicht freiwillig geben wollte. Zu diesem Zeitpunkt wurde ich auch schwanger, eine wirkliche Beziehung hatten wir nicht. Hätte ich mein Kind nicht bekommen, würde ich wahrscheinlich nicht mehr leben. Mein Kind war der Anker zum am leben bleiben, das konnte ich nicht alleine lassen. Etwa ein halbes Jahr nach der Geburt habe ich eine Traumatherapie angefangen - immerhin über 2 Jahre nach dem Ereignis. Etwa ein Jahr später lernte ich meinen Mann kennen, 2 Jahre nach unserem Kennenlernen haben wir geheiratet. Mein Gewicht war immer Spiegel meiner psychischen Verfassung - ging es mir gut, ging das Gewicht runter, ging es mir schlecht, ging es wieder rauf. Damals habe ich erstmals an OP gedacht, war aber der Überzeugung, dass ich erst mal meine Psyche reparieren musste, damit das ganze irgend einen Sinn hat.
Die Psychotherapie dauert mit mehrfacher kurzer Unterbrechung immer noch an. Ich habe gelernt, mich selbst zu mögen, was nicht sehr leicht ist. Ich habe gelernt, dass meine Erinnerungen zu mir gehören, und dass ich nicht durch eine Therapie gehen kann und dann ist alles wieder gut, sondern dass ich mich täglich und lebenslang mit ihnen auseinandersetzen muss und mit meiner Depression, meiner Sucht nach Essen. Ich musste lernen, Probleme nicht herunter zu schlucken, sondern anzunehmen. Ich musste auch lernen, mir etwas Gutes zu tun, das nicht mit Nahrungsaufnahme zu tun hat. Seit 1,5 Jahren lebe ich ohne Psychopharmaka und habe seitdem auch keine Essattacken mehr gehabt. Was mir noch oft bleibt, ist das Gefühl, nicht gut genug oder nicht richtig zu sein.
Sonst geht es mir inzwischen gut. Ich habe einen tollen Mann und 2 super Kinder. Ich habe mein Studium beendet und eine abgeschlossene Facharztausbildung. Beruflich würde ich gerne noch weiter kommen.
Mein Gewicht hat sich seit Jahren bei 122 kg eingependelt. Mit diesem Gewicht bin ich in Absprache mit meiner Psychologin ins Adipositaszentrum gegangen. Während des MMK habe ich 12 kg abgenommen, und ich habe gemerkt, wie viel sich im Kopf getan hat. Ich kann inzwischen andere essen sehen ohne mitzufressen, auch Chips und Schokolade (und das konnte ich vorher tütenweise runterschlucken). Vor 11 Tagen habe ich einen Schlauchmagen bekommen.
Gescheitert... Bis jetzt bin ich immer gescheitert. Aber wenn ich nicht weiter mache, bin ich schon gescheitert.
Die Gründe, warum Menschen übergewichtig oder esssüchtig werden, sind vielfältig. Aber weder mein Gewicht noch all die Dinge, die ich in meinem Leben getan habe (freiwillig, aber ohne meinen "Freund" wäre es wohl nicht so weit gekommen), machen mich zu einem schlechteren Menschen. Vielleicht musst du auch ein bißchen an der Ursache kratzen und nicht so sehr an den Folgen.
LG,
Andrea